1. Das Simile-Prinzip
"similia similibus curentur"(Hahnemann; nicht "curantur" s . Ritter 1986) - "Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden" - besagt nach homöopathischer Auffassung, daß diejenige
(niedrigdosierte) Substanz zur Heilung einzusetzen ist, die (in höherer Dosierung) Symptome hervorzurufen vermag, die bei der zu behandelnden Krankheit auftreten. Dem Auffinden des Mittels haben also
Arzneimittelprüfungen am Gesunden vorauszugehen - auf die schon aus praktischen Gründen der Homöopath verzichtet und sich stattdessen des literarisch überlieferten "Erfahrungsschatzes" bedient.
Es muß schon erstaunen, wie in der heutigen Zeit durch psychologisch geschulte Medienvertreter und Interessentengruppen (die im Gegensatz zu den Kritikern beträchtliches Kapital erwerben) die aktuelle Volksmeinung
des durchschnittlichen, kritiklosen Bürgers "umgedreht" werden kann. Wird nicht auf der einen Seite durch Presse-und Medienkampagnen "die Chemie" und, spezieller noch, "Chemie In der
Medizin" verteufelt? Auf der anderen Seite wird die Homöopathie - als "Naturheilkunde" - auf einen imaginären Thron gehoben, obwohl sie sich in überwiegendem Maße der anorganischen Chemie bedient,
was leicht in jedem homöopathischen Arzneibuch nachgesehen werden kann. So baut sich z. B. das Denkgebäude homöopathischer Diagnose (wenn man den Ausdruck Diagnose überhaupt für die praktisch willkürliche
Zuordnung von Symptomen brauchen darf) auf anorganisch-chemisch erzeugten Arzneimittelbildern auf.
Was hat Hahnemann dazu veranlaßt, diesen Simile-Grundsatz zum Ausgangspunkt einer besonderen Arzneimittellehre zu machen? Die gesamte homöopathische Literatur zitiert hierzu Hahnemanns historischen Selbstversuch
mit Chinarinde (Chinin), dem einzigen damals schon bekannten Malariamittel bzw. Mittel zur Fiebersenkung.
Hahnemann war für seine Zeit literarisch hoch gebildet. Er hat vor Begründung seiner Heillehre mehrere medizinische und chemische Fachbücher seiner Zeit ins Deutsche übertragen, ferner an der Lösung
chemietechnischer Probleme gearbeitet und Monografien für das Fachgebiet der Chemie verfaßt. Der Freimaurer Hahnemann hatte aber auch eine - in seiner zweiten Lebenshälfte wohl zunehmende - Neigung zu
mystisch-okkulten Vorstellungen und Praktiken.
Es ist sicher, daß der Zeitgenosse Goethes ("Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken?...") die numinosen Assoziationen von "Gleichem durch Gleiches",
"Ähnlichem durch Ähnliches" (das Simile-Prinzip) und "Gegensätzlichem durch Gegensätzliches" aus vielen Quellen gekannt hat. Schon die Vorsokratiker hatten ja gelehrt, daß Gleiches nur durch
Gleiches erkannt werde und jeder Mensch nur das sehe, was ihm adäquat sei.
Heraklit: "Das Bewegte wird durch das Bewegte erkannt."
Empedokies: "Erde gewahren wir stets durch Erde, durch Wasser das Wasser, göttlichen Äther durch Äther, verwüstendes Feuer durch Feuer, Liebe durch Liebe zumal und Streit mit traurigem Streite."
Plato: "Das Auge ist nicht die Sonne, aber das sonnenähnlichste Wahrnehmungswerkzeug."
latin: "Nie hätte das Auge die Sonne gesehen wenn es nicht selber sonnenhaft wäre ..."
Die oben zitierte Verszeile Goethes ist ein Beispiel für die Kontinuität des primitiven naturphilosophischen Simile-Gedankens, vielleicht ist sie sogar ein Plagiat.
Hahnemanns "similia similibus curentur" war alles andere als eine geistige Neuigkeit. Auf Chinarinde aufmerksam geworden ist Hahnemann nach eigenem Bekunden (Prokop/Prokop 1957) durch William Cullen
(1710-1790), dessen Hauptwerk er ins Deutsche übersetzt hat. Cullen vertrat ebenso wie John Brown (1735-1788) und der Deutsche Michael Alberti (1734) "naturphilosophische" bzw. okkulte Auffassungen über
Krankheit und Heilung, die ähnlich schon bei Paracelsus (1491-1541) zu finden sind, auf den sich Hahnemann ausdrücklich bezieht (Prokop/Prokop 1957). So wie nach ihm Hahnemann, sah Brown nicht eine Krankheit
vorliegen, sondern konstatierte "naturphilosophisch" Abweichungen der "Lebenskraft". Die Arzneimittelprüfung am Gesunden sollte darüber nähere Aufschlüsse bringen.
Wie Prokop/Prokop (1957) aufzeigen, reicht die Liste der "Klassiker" unter den vorwissenschaftlichen Ärzten, die mittels des Simile-Prinzips die Lebenskraft beeinflussen wollten, über die Okkultisten
Paracelsus und Agrippa von Nettesheim (1456-1535) bis auf Hippokrates (460-370 v. u. Zr.) zurück. Darüber hinaus waren die Vorstellungen über "Gleiches durch Gleiches", "Ähnliches durch
Ähnliches" und "Gegensätzliches durch Gegensätzliches" und über die damit erzielbare Beeinflussung der ebenso mystisch aufgefaßten "Lebenskraft" Allgemeingut im jahrhunderte-, ja
jahrtausende alten Volks- und Aberglauben - und nicht erst bei den Esoterikern des 18. und 19 .Jahrhunderts beliebt. Es sei nur an die zahllosen Beispiele des Analogieglaubens, an Zauber, an Sympathie- und
Antipathiemittel in Aberglaube und Magie und an die Signaturlehre erinnert, die zur Auffindung angeblicher Arzneipflanzen und anderer okkulter Behandlungsschemata geführt hat. An vielen von ihnen wird - wie an
Kulturgütern - bis heute festgehalten. Der überlieferte und lebendig fortentwickelte Schatz von Beispielen für den Analogieglauben, für Zauber, Sympathiemittel und Signaturlehre kann mit viel Spaß in
"naturphilosophischen" Kuriositätensammlungen nachgelesen werden, auf die man bei der Lektüre der Lehrbücher und Lexika der Volkskunde, des Volks- und Aberglaubens und alter und neuer Bücher über
"Volksmedizin" und "Naturheilkunde" stößt. Obwohl Hahnemann später die Signaturlehre abgelehnt hat (Tischner nach Prokop/Prokop 1957), hat ihr Arzneipflanzenschatz doch Aufnahme in die
Homöopathie gefunden.
Als Hahnemann seinen Selbstversuch zur Arzneimittelprüfung am Gesunden mit Chinarinde gemacht hat, wußte er also erstens, daß Chinarinde ein bewährtes Malaria- bzw. Fiebermittel ist, und zweitens war er von der
Richtigkeit des Simile-Prinzips überzeugt: Er mußte deshalb bezüglich der Wirkung der im Selbstversuch bei gesundem Zustand eingenommenen Chinarinde eine ganz bestimmte, suggerierte Erwartungshaltung haben, die
die an sich selbst erhobenen Befunde - bei denen es sich um subjektive Empfindungen handelte - natürlich entsprechend beeinflußt hat. So beschreibt er, daß er nach Einnahme von Chinarinde Fieber gefühlt habe.
Ritter (1986) merkt dazu an: "Sagen wir, er litt an Symptomen, die er als einen Fieberzustand auffaßte... Diese Folgerung aus der bekannten spezifischen Wirkung der Chinarinde erweist sich nach unserer
Kenntnis als Trugschluß. Wir wissen, daß das Chinin direkt schädigend auf die Malariaplasmodien wirkt und nicht durch die direkte Einwirkung auf den Organismus"(was Hahnemann natürlich noch nicht wissen
konnte). Präziser: Mit Chinin, hochdosiert, kann man beim Menschen kein Fieber erzeugen! Hahnemanns Simile-Regel, das Fundament der Homöopathie, beruht aber auf diesem vermeintlichen "experimentellen
Beweis", von dem nur eine falsche Beobachtung und eine falsche Schlußfolgerung übrigbleiben.
Das wirksamste Akaloid der Chinarinde, das Chinin, wird auch heute noch gegen Malaria verwendet. Bei den Wirkungen des Chinins (Hauschild 1973) sind drei Wirkungsklassen zu unterscheiden:
a) Wirkungen bei therapeutischer Dosierung des Chinins
Dazu gehört der bittere Geschmack des Chinins, weshalb chininhaltige Getränke als appetitanregende Mittel Verwendung finden. In einem Dosisbereich, bei dem noch wenig unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, stehen
die milde Analgesie und Fiebersenkung im Vordergrund, die jeweils zentralnervösen Angriffspunkten zugeordnet erden können.
b) Toxikologle des Chinins
Erst bei höherer Dosierung ist Chinin ein wirksames Zellgift. Es hemmt verschiedene Enzymsysteme der Zelle. Dies führt zu einer signifikanten Verminderung der Zellatmung durch Hemmung biochemischer Prozesse und
damit zu einer Verminderung der Temperatur. Aus diesem Grunde kommt es zu einer systemischen Temperatursenkung beim Menschen, beziehungsweise zur letalen Stoffwechselblockade bei den Malaria-Erregern, den Schizonten
in den Roten Blutzellen. Bei höherer Dosierung des Chinins kommt es also zu einer Vergiftung. Eine Folge davon ist Untertemperatur mit evtl. "Schüttelfrost". Was auch immer Hahnemann bei seinem
Chinin-Selbstversuch empfunden haben mag, durch Chinin kann er sich kein Fieber erzeugt haben. Den vermeintlichen Befund hat er aber auch noch verallgemeinert, nämlich auf beliebige Substanzen und Symptome
übertragen und als Simile-Regel zur allgemeinen Grundlage seiner neuen Heillehre gemacht
c) Die individuelle Überempfmdlichkeit gegenüber Chinin
Anhänger der Homöopathie entgegnen gerne, daß Hahnemann aufgrund einer individuellen Überempfindlichkeit gegenüber Chinin (Idiosynkrasie oder Allergie) Fieber bekommen hätte. Individuelle
Überempfindlichkeitsreaktionen gegenüber Chinin ("Cinchonismus") kommen aber nur bei einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung vor. Und dabei ist noch die Frage, ob sie alle mit Fieberattacken
einhergehen. Übrigens war das Fieberthermometer zur Temperaturmessung zur Zeit Hahnemanns noch gar nicht bekannt! Hahnemann behauptete aber und glaubte wohl auch daran, mit "China" (Chinarinde mit dem
Hauptalkaloid Chinin) bei jedermann Fieber erzeugen zu können. Selbst wenn - ein seltener Fall - eine Person infolge einer allergischen Reaktion gegenüber Chinin Fieber entwickelt, kann dieses Ergebnis nicht
verallgemeinert und schon erst recht nicht, wie geschehen, interpretiert werden ("similia similibus curentur").
Hahnemanns Idee, mit einer verschwindend kleinen Dosis "Chinin" den Körper an Fieber "gewöhnen" und dadurch Fieber behandeln, senken zu können, bildete aber fortan die erste Grundlage seiner
Lehre und Therapie, der "Homöopathie" (= "Behandlung mit Gleichartigem"). Danach gilt es, möglichst viele Substanzen zu finden, die krankheitsähnliche Symptome erzeugen können. Aber schon auf
dieser Stufe ist das Bemühen zum Scheitern verurteilt:
Die allermeisten Präparate vermögen gar nicht die Symptome zu erzeugen, die ihnen die einzelnen Homöopathen zuschreiben. Dabei soll - vertraut man den allerdings uneinheitlichen und widersprüchlichen Angaben von
Homöopathen - ein einzelnes Homöopathikum zahlreiche und verschiedenste Symptome erzeugen können. Eine Auswahl und Kritik finden wir bei Prokop u.a. (1990).
Die erste Grundlage der Homöopathie, das Simile-Prinzip, ist also mehrfach falsifiziert. Zurück zum Seitenanfang oder weiter mit dem Potenzierungsprinzip
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