Potenzierungsprinzip
Stellen wir uns einmal vor eine Schulklasse und wagen folgende Behauptung: "Wenn wir die im Glas zu sehende Substanz in ein wenig Wasser auflösen und dann immer weiter mit Wasser verdünnen, wird die Substanz
immer wirksamer."
Nachdenkliche Schüler und solche, die sich an ihre Erfahrungen mit dem Auflösen (Feinverteilen) von Stoffen erinnern, werden uns verwirrt anschauen und uns - mit Recht - für verrückte Phantasten halten. Genau
diese phantastische Behauptung ist aber die zweite "Säule" des homöopathischen Gedankengebäudes: Das sogenannte "Potenzierungsprinzip".
Wenn mittels des Simile-Prinzips die passende Substanz zur Heilung gefunden ist (wobei Hahnemann und sogar noch seine Anhänger in neuerer Zeit Pflanzenteile oder pulverisierte tierische Teile jeweils wie eine
Monosubstanz betrachten), dann soll sie durch wiederholte Verdünnungsschritte und jeweiliges Verschütteln "potenziert" (wirksamer gemacht) werden. Nimmt die Wirksamkeit einer Substanz zu - so wie dies
die Worte "Potenzierung" und, in neuerer Zeit, "Dynamisierung" und "Energetisierung" suggerieren -, wenn immer kleinere Mengen von ihr im Lösungsmittel oder in einem festen
Trägermaterial (z. B. Milchzucker) verteilt sind und in den Körper gebracht werden? Kann ferner die Wirksamkeit einer nur noch in kleinsten Mengen vorhandenen Substanz durch Schütteln (Hahnemann und andere geben
dazu ganz präzise Anweisungen) erhöht werden?
Wie kam Hahnemann bei seiner Suche nach einem "leichten, sicheren und zuverlässigen (Heil-)Weg", den Gott, "der Allvater" mit dem "Befragen" der Arzneien möglich gemacht hat (eingangs
zit. Brief an Hufeland), überhaupt auf die Idee des "Potenzierens" durch Verdünnen? Diese Idee stammt wiederum nicht von ihm. Der schon zitierte John Brown hatte bereits vor Hahnemann gelehrt, daß ein
schwacher Reiz (eine niedrige Potenz) die höchste Erregung der "Lebenskraft" hervorbringe, wenn er auf deren "halbverzehrte Erregbarkeit" treffe (Prokop/Prokop 1957). Die okkulte Idee ist aber
noch viel älter. Schon Paracelsus hat die Arzneiwirkung als unabhängig von der Dosis bezeichnet (Katsch nach Prokop/Prokop 1957), indem er sie als eine Art "Fünklein" ohne Gewicht aufgefaßt hat, das
sich im Körper - je nach dem Zustand der "Lebenskraft" - stärke oder schwäche.
Ebenso wie für das Simile-Prinzip gibt es also auch für das Potenzierungs- Prinzip anstelle einer wissenschaftlichen, experimentellen Basis - wie generell beim Aberglauben - eine jahrhundertealte Überlieferung
okkulter Vorstellungen.
In neuer Zeit gab es erstaunenswerte Bemühungen von homöopathischer Seite um eine scheinbar naturwissenschaftliche Erklärung für das angebliche Bestehenbleiben der Wirksamkeit einer wäßrigen Lösung auch nach
phantastischer Verdünnung der Wirksubstanz bis hin zum wirkstofffreien Wasser (Resch u. Gutmann 1987; Davenas et al. 1988). Aber die hierzu vorgetragenen Behauptungen von einem "Gedächtnis" des Lösungs-
und Verdünnungsmittels Wasser sind unbegründete Spekulationen und können leicht widerlegt werden:
Die auch in flüssigem Wasser vorhandenen Wassercluster (geordnete Verbände von Wassermolekülen), denen eine Gedächtnisfunktion für die einmal anwesend gewesenen Wirkstoffmoleküle und -ionen zugeschrieben
werden, haben eine Zerfallszeit im Bereich von Nanosekunden. Wie bei anderen Flüssigkeiten, sind auch im Falle des Wassers die Moleküle ständig in Bewegung. Dadurch verändert sich die innere Struktur der
Flüssigkeit trotz Clusterbildung fortwährend. Wassermoleküle unterliegen aber auch noch ständig der Autoprotolyse, wobei sie zu Protonen und Hydroxidionen dissoziieren; in einer Gleichgewichtsreaktion
assoziieren diese wiederum zu Wassermolekülen. Die Zeitintervalle dafür liegen ebenfalls im Bereich von Nanosekunden, und man kann, weil es sich im einzelnen um statistische Zufallsereignisse handelt, nie
voraussagen, welche Wassermoleküle der Lösung gerade zerfallen sind. In der Regel liegen in der wäßrigen Lösung aber auch noch Ionen (z.B. Phosphat- und Carbonationen) und Moleküle (z. B.
Kohlensäuremoleküle) vor, die ihrerseits mit Wassermolekülen Protonenübergangsreaktionen eingehen und dadurch fortwährend zusätzlich Änderungen der Clusterstruktur bedingen.
In Anbetracht der bekannten Tatsachen ist schon erstaunlich wie scheinbar naturwissenschaftlich über die Möglichkeit von spezifischen, anhaltenden "Gedächtnisstrukturen" im Wasser spekuliert wird.
Wer heute über molekularbiologische und pharmakologische Reaktionen nachdenkt, sollte eigentlich zudem zur Kenntnis genommen haben, daß an den Rezeptorstellen der Zellrnembranen, an den Enzymmolekülen usw. jeweils
hochspezifisch beispielsweise ein bestimmtes Hormon-, Arzneistoff-oder Zuckermolekül oder Calziumion angreift und einen Primäreffekt auslöst, dies aber niemals von irgendwelchen "Abdrucken" - wie
behauptet - zustande gebracht werden kann. Man stelle sich außerdem einmal vor, welche Folgen es für den Zellstoffwechsel und den ganzen Körper hätte, wenn die freisteigenden Spekulationen über die biologisch
wirksamen "Gedächtnisstrukturen" des Wassers realistisch wären !
Biologisch bzw. pharmakologisch wirksam an den Zielstellen können also nur die Ionen oder Moleküle der Wirksubstanzen sein, nicht das leere Lösungsmittel. Dennoch gehen Homöopathen weiterhin davon aus, daß die
Wirksamkeit "ihrer" Substanzen keiner Dosis-Wirkungs- Relation entspricht.
Für chemische Teilchen -Teilchen -Wechselwirkungen (chemische Reaktionen) gilt aber das "Massen-" (Mengen-) "wirkungsgesetz" (Guldberg u. Waage 1864) - selbstverständlich auch für biochemische
und pharmakologische Reaktionen. Wenn ein vermeintlicher Arzneistoff, beispielsweise ein Homöopathikum, bei seiner Wirksamkeit nicht der Dosis-Wirkungs-Relation folgt, dann ist dies ein untrüglicher Hinweis
darauf, daß nicht dieser Stoff es ist, der das Ergebnis verursacht hat, sondern diesem Ergebnis nur assoziiert war. Um darüber die nötige Gewißheit zu erlangen, führt man bekanntlich für einen
Wirksamkeitsnachweis Doppelblindversuche durch, die noch aussagekräftiger werden, wenn man statt nur einem Placebomittel zwei mitlaufen läßt.
Dennoch hält die Homöopathie an der Verdünnung als wirkungswesentlich fest. Die Anhänger der Hochpotenzen gehen bei der Verdünnung sogar über die Loschmidtsche Zahl (6x10 hoch 23 ) hinaus, wollen also
beispielsweise eine Substanz in der Potenz (d.h. Verdünnung) D 24 herstellen und müssen diese dazu 1:10 hoch 24 (eine Zehn mit 24 Nullen) verdünnen. Dann kann nicht mehr damit gerechnet werden, daß wenigstens
noch einzelne Wirkstoffmoleküle (oder -ionen) vorhanden sind. Nach homöopathischer Auffassung ist es der amaterielle "Geist" einer Substanz, der in den ungeheuren Verdünnungen immer wirksamer
("potenziert") werde und auf die "Lebenskraft" (so noch Hahnemann) o. ä. einwirken könne.
Die Auffassungen der Homöopathen führen sich immer wieder selber ad absurdum. Die Behauptungen und Erklärungen sind beispielhaft für autistisch-undiszipliniertes Denken (darüber s.Bleuler 1921,1962 ).
Wir wollen weiter versuchen, das Denkgebäude, das an die phantastischen Bilder M.C.Eschers erinnert, zu entschleiern. Wenn man mit dem heute vorliegenden Faktenwissen, mit Sachverstand und Logik an das
Potenzierungs-Prinzip der Homöopathie herangeht, endet man immer bei Falsifizierungen (eine einzige reicht aus, um eine Hypothese mit hundertprozentiger Sicherheit zu widerlegen):
a) Es bleiben die vielen Substanzen, die in jedem noch so reinen Wasser oder Alkohol oder Milchzucker - anderen gebräuchlichen Verdünnungsmitteln - enthalten sind, unberücksichtigt. Es sind nämlich immer
praktisch alle Elemente enthalten Tabellen mit Mengenangaben über die natürlichen Beimengungen von Molekülen, Ionen und Atomen sind publiziert (Hopff 1991).
b) Woher wissen jeweils die Teilchen die nach Auffassung des Homöopathen dazu ausersehen sind, daß nur sie potenziert werden sollen?
c) Wie können die Apotheker überhaupt noch ihre Gefäße reinigen, wenn der materiell angeblich nicht faßbare "Geist" der mehr oder weniger weggespülten Substanzteilchen durch die Stoffverminderung beim
Ablösen doch immer wirksamer wird?
"Der Homöopath jedoch hat`s schwer, der Tiegel wird nicht sauber mehr. In allen Poren und auch Ritzen bleibt ja der Geist des Wirkstoffs sitzen. Er rätselt nun, wie dies zu machen. Der Wirkstoffgeist
hat nichts zu lachen: Zum Tiegelwaschen fähig ist - allein der Wirkstoff-Exorzist." (Andreas Kämmerer)
d) Sollte die vorgeschriebene Verschüttelung zwischen den Verdünnungsschritten tatsächlich zur ,,Potenzierung führen, dürfte nicht - wie auch üblich - in Centesimalschritten (jeweils 1:100) oder gar nur nach
der LM-Methode (1: 50.000) verdünnt werden, sondern die Verdünnung und Verschüttelung müßte in Dezimalschritten erfolgen. Denn es kommt ja nach homöopathischer Auffassung bei der "Potenzierung"
wesentlich auf das Schütteln nach jedem Verdünnungsschritt an. Deshalb müßten möglichst kleine und dadurch zahlreiche Verdünnungsschritte gewählt werden (Hopff 1990; Hopff 1991). Es sei aber - nicht der
Kuriosität, sondern der Enthüllung wegen - nicht verschwiegen, daß es auch Homöopathen und Homöopathika gibt, die scheinbar erfolgreich sind, ohne lege artis und sogar ohne jede Verschüttelung.
e) Bisher blieb ganz unberücksicntigt, daß es im menschlichen Magen, Darm und Blut ständig zur Potenzierung - Verdünnung plus Verschüttelung - aller eingebrachten wirksamen Substanzen kommen müßte: Sowohl
jener Vielzahl ubiquitär vorhandener Stoffe, die nach homöopathischem Arzneischatz bei entsprechender Verdünnung (und Verschüttelung) heilend wirken - so daß man sich fragt, wozu es da noch der Homöopathen und
der homöopathischen Industrie bedarf -, als auch der vom Stoffwechsel des Körpers selbst bereitgestellten Moleküle - deren ungeordnete "Potenzierung" geradezu eine Gefahr darstellen würde.
f) Eine andere Gefahr, die beim Transport wäßriger Flüssigkeiten entsteht, haben die Brüder Prokop (1990) schon vor langer Zeit erkannt und Transportunternehmen eindringlich davor gewarnt. Wird nämlich eine
Lösung beim Transport mit Lastwagen, Eisenbahn oder am Körper geschüttelt, könnte sich die Wirksamkeit weiter steigern. Schon der Transport einer homöopathischen Medizin könnte, selbst in Damenhänden, zu
einer ungewollten Verschüttelung und damit Wirkungsverstärkung führen.
g) Ob unser naturwissenschaftliches Weltbild oder das der Homöopathie mit der Wirklichkeit verträglich ist, kann rasch beispielsweise auch mit folgendem Experiment beantwortet werden: Ein Homöopath möchte eine
Tasse zuckergesüßten Kaffee haben. Wir reichen ihm eine Tasse voll, dem aber zu wenig Zucker zugesetzt worden ist. Die Süße (das ist die gewünschte biologische Wirkung, sensorische Reizung) genügt ihm nicht.
Also nehmen wir 9 Teile Wasser und geben einen Teil des nur leicht gesüßten Kaffees hinzu. Dann schütteln wir - z. B. so wie einst Hahnemann. Es ist zu erwarten, daß mit dem einen Potenzierungsschritt die
ausreichende Süße des Kaffees noch nicht erreicht sein wird. Also potenzieren wir dezimalschrittweise nochmals und nochmals und nochmals ... Ob dabei dem Homöopathen nicht angst und bange wird? Denn das Coffein
müßte ja ebenfalls von Schritt zu Schritt potenziert werden, und die dann zu erwartenden toxikologischen Nebenwirkungen wären beachtenswert: Massive Diurese, bedrohliche Herzrhythmusstörungen ...
Fassen wir kurz zusammen: Sowohl die erste wie die zweite Grundvoraussetzung der Homöopathie - Simile-Prinzip und Potenzierungs-Prinzip - sind samt den übernatürlichen und den -
neuerdings zu beobachtenden - pseudonaturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen falsifiziert. zurück zum Seitenanfang oder weiter zum Vergleich
|